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Künstlerische Qualität: 10 von 10
Klangqualität: 10 von 10
Gesamteindruck: 10 von 10

Wenn man dieses ebenso schöne wie faszinierende Album mit mittelalterlichen Vertonungen des Hohenliedes im Zusammenhang hört, stellt sich ein fiktives Ganzes ein, das ein wenig an die spekulativen Rekonstruktionen von musikalischen Gottesdiensten, wie sie beispielsweise im Italien des 16. oder im Deutschland des 17. Jahrhunderts stattgefunden haben könnten, erinnert. Tatsächlich aber wäre eine Kompilation wie „Vox dilecti mei“ vor gut 1000 Jahren kaum möglich gewesen: Die einzelnen Werke stammen aus einem immensen Einzugsgebiet, das von Oberbayern über Frankreich, Italien und das alte Schlesien bis nach England, in einem besonders schillernden Fall sogar bis nach Island reicht. Kaum vorstellbar, dass ein solches breites und vielschichtiges Repertoire im späteren Mittelalter an einem Ort hätte konzentriert werden können.

Stimmiges Programm

Dass diese insgesamt 18 lateinischen Antiphonen, Motetten und Dialoge hier überhaupt verglichen werden können und ein nicht nur in ihrem gemeinsamen textlich-gedanklichen Bezug auf den alttestamentarischen „Canticum Canticorum“ des Salomo in sich vollkommen stimmiges Programm ergeben, ist die genuin musikwissenschaftliche Leistung der Sängerin und Leiterin des Ensembles Peregrina, Agnieszka Budzinska-Bennett. Es lohnt sich, in ihrem Einführungstext im Einzelnen nachzuvollziehen, wie sie alle diese Stücke nicht nur ausfindig machte und mit Quellen belegt, sondern in mehreren Fällen mit detektivischer Akribie sogar Melodien rekonstruierte.

Musikalische Expertise

Alle diese Mühen blieben aber bloßes Bücherwissen, wenn Agnieszka Budzinska-Bennett und ihrem siebenköpfigen Ensemble Peregrina nicht der Sprung von der musikologischen Expertise in die musikalische Vergegenwärtigung gelingen würde. Der Großteil des Repertoires ist einstimmig; selbst ein literarisch-dramaturgisch so fesselndes Stück wie der aus St. Emmeram auf uns gekommene knapp zwölfminütige Dialog zwischen verschiedenen Figuren um die allegorische Figur der Kirche (Tr. 5), würde sich doch in die Länge ziehen, wenn die Sängerinnen und Sänger die unbegleiteten Melodien nicht derart suggestiv mit Leben, mit Richtung, Ausdruck, erfüllen würden; ein anderes gutes Beispiel ist die Antiphon In lectulo meo (Tegernsee, 15. Jahrhundert), allein gesungen von Lorenza Donadini (Tr. 15). Zur Versinnlichung der Musik tragen auch effektvoll gestaltete Wechsel zwischen solistischem und chorischem Vortrag wie etwa in der melodisch anheimelnden, der Hildegard von Bingen zugeschriebenen Antiphon Sicut malum (Tr. 12) bei sowie der sparsame Einbezug von alten Saiten-Instrumenten, die die Nummernfolge mit zwei tänzerischen Estampien auflockern.

Engelsgleiche Gesänge

Schier atemberaubend ist die Wirkung schließlich, wenn in dem einleitenden, anonymen Epithalamium (Canterbury, 11./12. Jahrhundert) oder in der abschließenden Antiphon Venit dilectus meus das an die karge Linienführung gewöhnte Ohr auf einmal mit mehrstimmigen Klängen überrascht wird: Hier können wir anschaulich nachvollziehen, wie im mittelalterlichen England die Terz von einer musiktheoretisch streng zu vermeidenden Dissonanz in der Praxis der sinnlichen Wahrnehmung zu einer Konsonanz wird, deren Wirkung mit dem Gesang von Engeln verglichen werden musste.

Prof. Michael B. Weiß

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