Gegen die energischen technischen Bemühungen, alte Klavierrollen-Dokumente auf heutigem Klangniveau zu neuem Leben zu erwecken, ist nichts einzuwenden. Im Gegenteil: der lauschende Blick zurück in die Urzeiten der mechanischen Tonaufzeichnung sollte für jeden, der sich etwas eingehender mit Musik und all ihren interpretatorischen Verbindlichkeiten befasst, zur angenehmen Pflicht werden. Was können wir nicht alles lernen, wenn bei dieser Gelegenheit der immerhin 76-jährige Theodor Leschetitzky noch einmal in die Tasten greift! Nimmt man die eingangs verfügte Mozart-Fantasie KV 475, so fühle ich mich (ich vermeide bewusst die Formulierung: "fühlt man sich") in eine andere, fremde, aber auch faszinierende Welt der gestalterischen Subjektivität versetzt – fern aller aufführungspraktischen Überlegungen, angstfrei, was den Umgang mit dem Notentext anbelangt, einzig und allein dem eigenen Wähnen und Fühlen verpflichtet. Leschetitzky spaltet die anfänglichen, ihm vielleicht zu unfreundlich klingenden Unisono-Formationen in eine Art Mehrspurigkeit auf. Heute würde jeder Klavierlehrer seinem Schüler mit dem imaginären Rohrstock auf die Finger klopfen!

Andererseits: es gab zu diesen Welte Mignon-Zeiten Anfang des 20. Jahrhunderts keine Mozart-Tradition, keine oder fast keine dokumentierten Vorbilder – und schon gar nicht hatte man eine Vorstellung, wie Mozart seine Werke vorgetragen hat, geschweige denn, wie man sie zu spielen hatte. Autorität war die Persönlichkeit des Künstlers, seine Aura auf dem Podium, seine Leistungen über eine lange Lebens- und Wirkensstrecke. Und so sind wir heute gehalten, uns auf Leschetitzkys Eigenwilligkeit im Umgang mit dieser c-Moll-Fantasie gläubig, staunend, zuweilend protestierend einzustellen, so scheckig, so wackelig, aber auch im Detail so rührend das von Tacet ins "Heutige" beförderte Ergebnis auch ist.

Mit gegenwärtigen Maßstäben gemessen, ist auch Leschetitzkys Wiedergabe der Des-Dur-Nocturne von Chopin ein Beleg für den geradezu unheimlich freien Umgang mit den vorliegenden Daten. Hingegen bewegt er sich im Umfeld der frühen, posthum herausgegebenen B-Dur-Polonaise gar nicht so weit von aktuellen und etwas älteren Deutungen (Magaloff/Philips, Ashkenazy/Decca, Harasiewicz/Philips, Moisiewitsch/Piano Library, Clidat/Forlane, Ugorski/DG, Ferenczy/Hungaroton etwa). Völlig in seinem Element – nämlich im Bereich eleganter, flüssiger Nebensächlichkeit – tobt und säuselt sich Leschetitzky in den Heller-Miniaturen und in seinen eigenen Charakterbildlichkeiten aus. Rückhörend wird dann auch manches verständlich, denn etliche Passagen der Mozart-Fantasie scheinen aus dem Geist dieser „Souvenirs“, dieser "Arabesken"- und "Impromptu"-Inventionen gespielt und nachempfunden zu sein.

Falls man den Unterschied zwischen einem bedeutenden Komponisten und einem weniger wichtigen (gleichwohl sympathischen) Autoren festmachen möchte, dann darf man Leschetizkys lauwarme Quellenstudie La Source (op. 36) mit Liszts prä-impressionistischem Au bord d’une source-Aquarell vergleichen. Indes: Es gibt Pluspunkte für den kompositorischen Kleinmeister: Theodor wusste sich mit seinem "Verüben eigener Verbrechen in Form von neuen Klavierstücken" ohne Selbstüberhebung einzuschätzen. Christian Schaper fügt in seinem exzellenten Begleittext hinzu: "Wenn Brahms in der gemeinsamen Sommerfrische gelegentlich über diese ‚ganz kleinen Dinge’ treffend spottete, wusste Leschetitzky allerdings zu kontern: ‚aber zehnmal amüsanter als deine’".
Peter Cossé

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