Wann immer man im Zusammenhang mit Musik „vom Ernst des Lebens" sprechen möchte, wäre der Pianist Evgeni Koroliov und seine Interpretationen der geeignete Gegenstand. Seine zahlreichen Einspielungen für das rührige und auf hohe Qualität bedachte Tacet-Label bestätigen ihn auf einer sicheren Spur friedfertiger Unbeugsamkeit, des Erkundenes vorgegebener Werte mit klaren Vorstellungen. Koroliov lässt sich nicht – oder nur selten – von den schönen Dingen des Nebensächlichen, des Schmückenden verlocken. Man denke hier an Vladimir Horowitz, dem es immer gegeben war, sich mit leisen, suggestiven, schier unirdischen Momenten aus einem vertrauten Werkverlauf auszublenden. Womit er dem Klavierspiel eine unerhörte Dimension des fesselnd Unwirklichen und zugleich unvergesslich Greifbaren erschloss. Dies lässt sich auch anders akzentuiert beschreiben. Koroliov bietet ein gründlich vorbereitetes Ganze unter dem Schirm dienender Verantwortung, während Horowitz mit dem herausgehobenen Einzelnen für kostbare Momente den Augen die Ohren und den Ohren die Augen öffnete. Es sind klangliche Wimpernschläge des rein materiell nicht mehr Erklärbaren – kurzum: Koroliov führt den Hörer, Horowitz führt und entführt ihn…Als Beispiel für Horowitzens Klangzauber und schier transzendentale Anschlags- und Tastenstreichelmagie nenne ich als Musterbeispiele seine verschiedenen Aufnahmen von Skrjabins Etüde op. 2,1 und der Poème op. 32,1! Für eine deutende Wiedergabe eines so weit reichenden, umfangreichen Komplexes wie Beethoven so genannte Hammerklavier-Sonate wird ein Musikernaturell wie jenes von Koroliov zweifellos stichhaltigere Ergebnisse zeitigen als ein Vortrag im Blick und mit dem Griff auf das schöne Einzelne, auf die vereinzelte Pointe oder gar mit dem Kurzzeiterfolg, für Augenblicke die reale Zeit gleichsam ausblenden zu können. Ich weiß nicht, ob Horowitz je die monumentale, den Pianisten bis an die Grenzen des Machbaren herausfordernde B-Dur-Sonate je gespielt oder gar aufgeführt hat. Koroliov jedenfalls beschreitet mit seinen ungemein zuverlässigen Händen einen Weg wie in völliger Verachtung alles Exzentrischen. Keine Unwucht in der unbeirrt voranstrebenden Texterkundung stört den Rundlauf im Markanten der schnellen Abteilungen, schon gar nicht im Verhaltenen des langsamen Satzes./p>

Der akkordisch auftrumpfende, wie eine Festspielfanfare die noch murmelnden, raschelnden Zuhörer zur Aufmerksamkeit zwingende Einstieg entbehrt bei Koroliov nicht der Strahlkraft und des glanzvollen Klangmuskelspiels. Er aber bleibt in der Tempodosierung zurückhaltend. Gemäßigt insofern, als die Diskussionen um die Originalität (und Unzweifelhaftigkeit) der überkommenen Metronomangaben zu ersten, wahrhaft handgreifliche Ergebnissen führten. Friedrich Gulda war es wohl als Erster, der den Kopfsatz in den 60er Jahren in gefährlicher, irritierender Rasanz abzuwickeln wagte. Selbst wenn Beethoven an ein so hohes oder auch nur annähernd so eiliges Tempo gedacht haben sollte, es sollte jedem verantwortungsbewussten Spieler dennoch erlaubt sein, die rahmenden Teile auf eine Weise zu beschleunigen, die den motivischen und satztechnischen Feinheiten sozusagen Luft und Lebensraum belässt. Ansonsten kommen und verflüchtigen sich die Gestalten und Linienverknüpfungen der beiden Sätze bis zur Unkenntlichkeit. Viele an sich schon eng gesetzte Details kommen wie zerquetscht, also wild hervor und weiter gezerrt. Größe und stolze Wucht verkommen in Ungeduld und Hektik, die Fuge gerät zum post-barocken Amoklauf in dessen Verlauf die massiven Trillerkombinationen wie auf einem von Kalaschnikoff getunten Steinway daher knattern. Koroliovs Handhabe mag man im krassen Unterschied zu Gulda (dem man auch Michael Korstick an die Seite stellen darf) eine eher akademische Haltung ankreiden. Doch diese Haltung ist mir insofern sympathisch, als sie mich bei der neuerlichen Auseinandersetzung mit dem Werk nicht durch pianistischen Hochleistungssport oder auch durch gestische Exaltiertheit von der Sache ablenkt. Von Koroliov gelenkt und immer wieder auf das Einzelne in Bezug auf das Überwölbende aufmerksam gemacht, zieht der erste Satz wie eine Abenteuerfahrt in bekannter Gegend vorüber. Sicher erkundet der Forscher am Klavier die weit entfernten Lagen auf den melodischen Gipfeln weit über der akustischen Baumgrenze bis hinunter in die Schluchten dieses Beethovenschen Allegro-Gebirges. Der zweite Satz wirkt bei Koroliov in seiner kurzatmigen Borstigkeit und mit seinen überraschenden, wenn man will: themenfremden Durchgangspassagen bedachtsam harmonisiert. Nicht eigentlich entschärft, aber in der Diktion jedenfalls etwas humaner dargeboten als es mir von den meisten Darstellungen in Erinnerung ist. Mit dem langsamen Satz erinnert Koroliov – wie mir scheint – an die Möglichkeit, dem Unbegreiflichen einen Hauch von Begreiflichkeit, eine gewisse Erdung zu verleihen. Es ist, als wollte er ihn nicht einzig und allein in Richtung ernster Weihe lenken, ihn sozusagen endgültig aus den Zonen grauen Diesseits dirigieren. Dies pflegten die alten Meister wie Edwin Fischer, Kempff, Arrau und auf seine Weise auch der kühlere Backhaus wie in Erwartung, mit und durch Beethoven die höchsten Gipfel eines moralisch-ästhetischen Olymps zu erklimmen. Evgeni Koroliov gibt dies eine Spur gelassener, er bittet den Hörer, ihn aufmerksam zu begleiten, sich mit ihm auf eine an sich kleine, subjektiv aber ausführliche musikalische Weltumrundung zu begeben, die bei aller hochgeistigen Verlangsamung in zarter Rhythmisierung auch dem Tänzerischen eine Chance gibt.

Die Fuge meistert Koroliov in einer fesselnden und zugleich erhellenden Mischung aus elastischer Unerbittlichkeit und klavierpädagogischer Beredsamkeit. Wir befinden uns gewissermaßen auf einem musikalischen Lehrpfad. Alle wichtigen Wendungen, Übergänge, Haltepunkte, alle Gefahrenzonen und Luststrecken sind markiert. Obwohl in diesem vielstimmigen Tumult aus Geist und Akrobatik, aus Handwerk und Zauberei von Gemütlichkeit keine Rede sein kann, mit Koroliov fühlt man sich sicher bis zum bebenden, erschöpfenden Ende geführt – bereit für die im Vergleich zur Fuge doch geradezu unterhaltsame A-Dur-Sonate (op. 101), sofern man sie nicht der Titelliste folgend zuerst gehört hat. Hier vermisse ich in Koroliovs Auftreten etwas mehr an „innigster Empfindung" und jenen „sehnsuchtsvollen" Tonfall, den Beethoven in vielfältiger A bstufung für die Sätze Nr. 1 und 3 gefordert hat. Im Märschmäßigen des zweiten Satzes und im Zuge von Geschwindheit und Entschlossenheit bleiben jedoch keine Wünsche offen. (...)

Peter Cossé

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