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Dem aus Prag stammenden Pianisten und Komponisten Alfred Grünfeld attestierte man in vielfach formulierter Zuneigung und Begeisterung der „wienerischste“ aller Pianisten zu sein. Aus heutiger Sicht und mit den Erfahrungen von rund 50 Jahren wienerischer Pianistik könnte man das mit einer Mischung aus Talent, Genialität, Schlampigkeit, Überheblichkeit, Mitteilungsfreude und weinseliger Melancholie in Schlagworte fassen. Und schon wird deutlich, wie weit man mit solchen Klassifizierungen daneben liegt, wenn man sich nur halbwegs gründlich mit einer der bedeutenden Persönlichkeiten des Wiener (und des österreichischen) Pianistenwesens befasst.

Für Grünfelds Wienertum spricht die Nähe zu Johann Strauss jr., der ihm seinen Walzer Frühlingsstimmen widmete, spricht seine kreative Liebe zu den verschiedensten Formen tänzerischen Ausdrucks und nicht zuletzt seine Beliebtheit als Musiker und als herausragende Persönlichkeit des öffentlichen Wiener Musiklebens. Die hier von der bewährten Tacet-Technik auf Gegenwartsstandard getrimmten Rolleneinspielungen von 1905 vermitteln einen – wie ich meine – verlässlichen Eindruck vom hohen Kommunikationsrang der Grünfeldschen Werkgestaltungen, von seiner klanglich und motorisch facettenreichen Klavieralchemie, aber auch von manchen Eigentümlichkeiten, die unmissverständlich auf den damaligen Zeitgeist interpretatorischen Schaltens und Waltens verweisen. Besonders aufschlussreich in dieser Hinsicht sind die beiden aufgezeichneten Chopin-Nocturnes, deren Verlaufskurven im Vergleich zu „heutigen“ Darbietungen viel freizügiger, ja ungezügelter gezeichnet werden. Grünfeld arpeggiert nach Lust und Laune, alles wirkt auf eine wackelige Art spontan erfühlt und sozusagen barpianistisch serviert. Schumanns Träumerei wird man kaum je so zerfleddert ausgebreitet erleben können. Aber es sind ja mehr als 100 Jahre zwischen diesen Aufnahmen und den aktuellen Hörgewohnheiten vergangen, wobei gerade die Chopin-Interpretation von Rubinstein, Harasiewicz bis hin zu Pollini und Zimerman eine Entwicklung hin zur Entfettung und Versachlichung genommen hat. In allen Fragen des Tempos zeigt sich Grünfeld als Meister sanfter bis ruckartiger Ungebundenheit. Im „Andante favori“ von Beethoven und in der Schumann-Novelette op. 21,1 gibt es dazu einige Beispiele. Wer sich aber einmal auf Grünfelds gescheite Unbekümmertheit eingelassen hat, der wird seine Freude an den tänzerischen Nummern haben, am Charme der melodischen „Rosinen“, am zwinkernden Umgang mit den Feinheiten des Dreivierteltakts, ganz gleich, ob es sich um die Musik des Walzerkönigs oder um eigene Ideen handelt. Es fällt also nicht schwer, Hans von Bülow zuzustimmen, wenn dieser in Grünfeld „eine so ausgeprägte Virtuosenindividualität“ begrüßte, „dass sie auf jeden ohren- und herzerfrischend wirken muss!“

Peter Cossé

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