"Frühwerke umfassen oft mehr, als ihre Schöpfer ahnen. Bach war in seinen Zwanzigern so kühn, dass er auf die Jugenderfindungen noch im Alter zurückgriff, Brahms ging es ähnlich und György Ligeti schrieb mit 20 Jahren Klaviermusik, die noch heute Zukunft hat. Nur knapp zwei Minuten dauert die "Polyphone Etüde" für vier Hände von 1946, aber sie enthält polytonale Schichtungen, Akzente, die wie Spuren einer unhörbaren Linie aus dem Geflecht ragen, und über allem ein banales Klimpermotiv, das wie ein Sample zugeschaltet wird und sowohl ironisch als auch maschinell wirkt. Man erlebt da einen kurzen, kühlen Blick wie von weit draßen.
Das ist eine der kleinen, großen Überraschungen einer Doppel-CD, die Ligetis sämtliche Werke für Klavier und Cembalo umfasst und einen spannenden Weg durch das Universum dieses Künstlers öffnet. Die frühen, vierhändigen Stücke hat er erst vor fünf Jahren drucken lassen, und mit ihnen beginnt Erika Haase (nebst Duo-Partnerin Carmen Piazzini) eine Reise, die allein schon ihrer rechnischen Strapazen wegen Respekt abfordert. Haase, Jahrgang 1935, spielte in den fünfziger Jahren Avantgarde, kümmerte sich später eher um Chopin und ihre hannoversche Professur - und durchmisst jetzt mit Ligeti und in Topform noch einmal fünf Jahrzehnte. Nach der strengen und seltsam ausweglosen "Musica Ricercata" von 1953 gerät man mit "Continuum", fünfzehn Jahre später, auf einen anderen Planeten. Der Komponist hat inzwischen mit schillernden Klangexturen seinen Weg an die Spitze der Zeit gefunden und unternimmt in seinem Cembalostück die Umschmelzung eines Barockgeräts in einen Wellensimulator. Erika Haase spielt dieses Wunderwerk organisch, strukturklar und plastisch. Nicht nur perfekt, sondern auch mit Genuss. Aufnahmetechnisch ist das die wohl beste Einspielung von "Continuum" - einem Neupert-Cembalo hätte man so viel Farbe, Tiefe, Plastizität gar nicht zugetraut. (...)"
Volker Hagedorn

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