Man darf es getrost wiederholen: Zu loben ist die Tacet-Initiative, die alten Rollen-Aufnahmen namhafter Interpreten auf einem hochwertigen, „modernen“ Konzertflügel gleichsam auf Ohrenhöhe zeitgenössischen Klangniveaus zu heben. Unter diesen luxuriösen akustischen Umständen gewinnen die alten, in Produktion und Übertragung nicht unproblematischen Einspielungen eine sympathische Dimension von Gegenwärtigkeit. Zumal sich das Spiel des jungen Vladimir Horowitz im Jahr 1926 im Bereich der rein manuellen Brillanz, der technischen Zuverlässigkeit weit über dem damaligen Normalmass bewegte. Die Klavier-Heroen und -Lyriker der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hatten ihre Vorzüge, ihr ganz spezielles Charisma, aber wer wollte von ihnen verlangen, etwa Busonis Figaro-Fantasie aus dem Nachlass Franz Liszts so athletisch, so ungerührt von manuellen Schikanen, aber auch im rechten Moment so einschmeichelnd in den Tontrichter transferieren zu können. Horowitz in dieser Phase der opern-klavieristischen Exaltation, aber auch in den wagemutigen Gedankenspielen seiner Carmen-Fantasie musste der Musikwelt den Atem verschlagen, denn es handelte sich um eine neue Dimension des Umgangs mit dem Instrument.

Aber auch Horowitz bewegte sich in den Embryo-Tagen der Klangaufzeichnung mit seinen Darbietungen in Übereinstimmung mit den ästhetischen Gewohnheiten seiner Mitstreiter um die Gunst des Publikums. Ein markantes Beispiel ist das g-Moll-Prélude op. 23,5 von Rachmaninoff. Anhand dieses berühmten, markant rhythmisierten, im Mittelteil schier verschwenderisch empfindsamen Stückes lässt sich Interpretationsgeschichte nachvollziehen. Horowitz nimmt das Stück – im Vergleich zu Sviatoslav Richter – sozusagen im Galopp, erweist sich als Meister, als Zauberer des vibrierenden Augenblicks, während sein russischer Kollege sich gut 30 Jahre später als Architekt, als Baumeister eines vom Komponisten vorgegebenen Verhaltensplans betätigte. Horowitz erhöht das Tempo, wenn repetierte Akkorde und herabstürzende Oktaven verlangt sind. Richter bindet diese Passagen in ein übergeordnetes dramaturgisches Konzept – und er steuert damit (schon weit über den sentimental-liedhaften Mittelteil hinauszielend) unfehlbar auf die Reprise hin. Und auch hier ein grundlegender Unterschied bei der Formulierung thematischen Zitierens. Horowitz findet sich recht hurtig ins Originaltempo zurück, Richter hingegen schleicht sich förmlich mit Behutsamkeit in das Tempo des initialen Gedankens – und er steigert bis zum Ende die Spannung, bevor er dem Prélude im letzten, wie aufsprühenden Schlenker mit äußerster Bedachtsamkeit ein wirkliches Ende beschert. Horowitz scheint in dieser dekorativen Endphase mit seinen Gedanken schon beim nächsten Stück zu sein – so nebensächlich schüttelt er diese Phrase aus dem Ärmel.

Kaum eine andere Kleinigkeit wie Rachmaninoffs Prélude op. 23,5 gibt indirekt Auskunft, wie sich gestalterisches Benehmen in den letzten Jahrzehnten von Künstler zu Künstler gewandelt hat. Die furchtbarste, pianistisch völlig verwahrloseste Version ist mir mit dem an sich verehrten Julian von Karólyi in Erinnerung, aber auch bei Versionen mit Ogdon, Lhévinne, selbst mit Rachmaninoff selber vermisse ich die bei Richter so bewundernswerte Perspektivgebung vom ersten bis zur letzten Note.

Insgesamt betrachtet und gehört sind diese hier im wahrsten Sinne wieder belebten Horowitz-Aufnahmen ein Labsal, eine abenteuerliche Reise mit einem eigenwilligen Lektor und Führer durch die Partituren: „Russisch“ gedeutete Chopin-Mazurken, verwegen, gleichwohl leichtfingrig kredenzte Chopin-Etüden, zudem ein wenig Eigenes aus der Werkstatt des genialen Barpianisten (Moment exotique), eine etwas sorglos, ja hingefetzte Valse oubliée von Liszt und zwei Busoni-Bearbeitungen Bachscher Orgelwerke. Im Hinblick auf Präludium und Fuge D-Dur BWV 532 erlaube ich mir darauf hinzuweisen, um wie viel konstruktiver, verantwortungsvoller György Cziffra dieses Werk in seiner BBC-Aufnahme zu gestalten wusste!

Der Tacet-Redaktion möchte ich eine minimale Korrektur nicht ersparen: Liszts Liebesbotschaft ist eine Schubert-Bearbeitung. Da sollte in der Titelei der Urheber schon genannt werden – und auch die BWV-Nummern sind ja inzwischen mehr als bekannt...
Peter Cossé

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