"Sie üben noch heute eine magische Faszination aus: die vor hundert Jahren angefertigten Papierrollen, die die Tasten eines Klavieres oder Flügels wie von Geisterhand in Bewegung setzen und mittels einer komplizierten Technik imstande sind, das individuelle Spiel von Pianisten in allen Feinheiten der Agogik und Dynamik annähernd authentisch wiederzugeben. Die Größten ihrer Zeit von Eugen d´Albert bis Ignaz Paderewski verewigten sich auf dem Welte-Mignon-Piano, bis es zu Anfang der 30er Jahre von Schallplatte und Rundfunk verdrängt wurde. Um 1960 erinnerte man sich der Schätze und begann, die alten Aufnahmen von den Tonrollen auf Schallplatten zu überspielen. Zu diesem Zeitpunkt waren allerdings einige Einstellungsanweisungen in Vergessenheit geraten, so dass man zwar die Stars der Vergangenheit ohne das Rauschen und Knistern historischer Plattenaufnahmen hören konnte, dafür aber Tempoprobleme und Gleichlaufschwankungen in Kauf nehmen musste.
Nun hat für die Welte-Mignon-Aufnahmen eine neue Ära, sozusagen ein drittes Leben begonnen. Dem Spezialisten Hans-W. Schmitz ist eine exakte Justierung der Apparatur gelungen, die die Tempoabweichungen auf ein Minimum reduziert, und das scharfe Ohr des Produzenten Andreas Spreer sorgt in Verbindung mit einer hochkarätigen Technik für eine lupenreine Wiedergabe des gesamten Klangspektrums des modernen Steinway D - Konzertflügels, an den der Welte-Mignon-Vorsetzer angeschlossen wurde.
Auch wenn einige Fragen hinsichtlich der „Originaltreue“ dieser Aufnahmen offen bleiben (die dynamische Differenzierung ist teilweise eingeschränkt, Instrument und Raumakustik der Originaleinspielung entsprachen wohl kaum denen der Wiedergabe und Neuaufnahme, mögliche Veränderungen beim Umschreiben in eine gestanzte Papierrolle lassen sich nicht mehr ermitteln), handelt es sich doch um einzigartige Dokumente, die ein durchaus signifikantes Bild vom Spiel des jeweiligen Künstlers vermitteln – was nicht zuletzt die überlieferten Kommentare der betreffenden Musiker bestätigen. Max Reger sah im „Mignon“ eine „Erfindung von unschätzbarer Bedeutung“, die er gerne nutzte, um eine Tradition der Wiedergabe seiner eigenen Werke zu vermitteln. So erleben wir die Reihe kleinerer Stücke, wie er sie am 8. Dezember 1905 in Leipzig eingespielt hat: mit bemerkenswerter rhythmischer Freiheit, poetisch im Ausdruck, „seelenvoll“ (wie es in einer zeitgenössischen Konzertbesprechung heißt). Die pianistisch eindrucksvolle Einspielung der großen Telemann-Variationen stammt von Frieda Kwast-Hodapp, der Reger auch die Uraufführung des Werkes anvertraut hatte. Sie bietet eine vom Komponisten autorisierte leicht gekürzte Fassung.
Das sorgfältig gestaltete Booklet bietet in Wort und Bild interessante Informationen über das Welte-Mignon-Verfahren und die vorliegende Aufnahme. Für alle Klavierfreunde eine Bereicherung, für Reger-Freunde unverzichtbar."
Sixtus König

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