Der vielleicht etwas überraschende Umstand, dass Christoph Ullrichs zweite Veröffentlichung seiner weiten Scarlatti-Unternehmung als Folge 11 ausgewiesen ist, sollte auf Ordnung erpichte Hörer nicht in Unruhe versetzen. Der Pianist und seine Tacet-Herausgeber werden es sich genau überlegt haben, wie sie vorgehen, um Stück für Stück und Volume für Volume das vorgegebene Versprechen einer Gesamteinspielung zu erfüllen. Für die hier vorliegenden zwei CDs wurden 30 Sonaten ausgewählt, die im Kirkpatrick-Verzeichnis die Nummern 358 bis 387 tragen. All jene Scarlatti-Freunde, die vor allem mit dem Longo-Register lernend und genießend aufgewachsen sind, werden innerhalb dieses Spielraums einige vertraute, im Konzertleben und auch auf den geeigneten Tonträgern immer wieder favorisierte Titel begrüßen. So etwa das farbige, bildhaft rhythmisierte E–Dur-Kunststück (L 23), dessen Andante commodo-Anweisung bedeutende Scarlatti-Protagonisten von Horowitz, Ciccolini, Marcelle Meyer bis hin zu Tharaud und Zacharias zu den überraschendsten gestalterischen Schlussfolgerungen verführt hat.

Natürlich bringt sich Christoph Ullrich mit diesem zweiten Doppelpack nicht als ein "Anderer" in Stellung als der er sich im Verlauf seiner ersten Scarlatti-Erprobung kundig und für so ein monumentales Projekt auch mutig gezeigt hat. Sein Spielwerk läuft nach Belieben, das heißt: alle von Scarlatti so reich an technischen Varianten, Überschneidungen und Gegenüberstellungen in Szene gesetzten Ideen einer in kleinen Kapiteln erzählten und zusammengefügten Lebensgeschichte erfahren unter den geschmeidigen Händen des Pianisten untadelige Umsetzung. Und dies auf einer Ebene, die man in vielen Momenten als neutralen Boden bezeichnen könnte, denn Ullrich lässt sich nur selten in die emotionalen Karten sehen. Sein Vortrag ist dabei keineswegs glatt, und seinen gewissermaßen dramaturgischen Entscheidungen mangelt es auch nicht an reger Bereitschaft, im vorliegenden Text dem jeweils als wesentlich Erkannten eine plausible und in den meisten Stücken auch erregende Wirklichkeit in Klang und Bewegung zu verleihen.

Ullrich scheint sich – wen würde das wundern?! – umso lebendiger zu äußern, je prägnanter und musikalisch wie technisch "dankbarer" sich die althergebrachten und zugleich zeitlos-gegenwärtigen Spiel- und Situationsmodelle darbieten. Dieses Qualitätsgefälle zwischen solider, ja auch kunstvoller Beliebigkeit und genialer Form-, Farb- und Sinngebung hat ja dazu geführt, dass von den rund 500 Sonaten etwa 50 zum Repertoire im weiten Sinn zu zählen sind, nur etwa 20 jedoch immer wieder in den Programmen auftauchen. Von ihnen sind es einige – ich nenne nur die Longo-Nummern 23, 366, 413 und 422 –, die so gut wie jeder Interpret in seine Überlegungen einbezieht, der sich für Scarlatti im Hauptprogramm oder auf der Zugabenstrecke entschieden hat.

Am Beispiel der genannten E-Dur-Sonate lässt sich hörend ablesen, wie sehr sich Christoph Ullrich bemüht, eine mehrteilige Geschichte mit Mitteln der Akzentuierung, der melodischen Ausformung und der dynamischen Proportionierung zu erzählen. Die lieblichen Fanfaren im Verlauf dieser musikalischen Bildfolge sind von friedlicher, elastischer Prägnanz. Die Musik hat im Folgenden und Wiederkehrenden ein räumlich deutlich erkennbares Vorne und Weiterhinten, gewinnt also ein rechtes Maß an Räumlichkeit, wie sie für das Verständnis eines instrumentalen Bühnenstückes "sans paroles" unverzichtbar ist. Ullrich indes ist – bis auf Weiteres? – nicht jener Scarlatti-Experimentator, der etwa diese E-Dur-Sonate als eine Aufforderung zur klanglichen Pyrotechnik benutzen oder aus seiner Sicht wohl missbrauchen würde. Alexandre Tharaud hat im Mai des vergangenen Jahres in einem Klavierabend in Barcelona jene Grenzbereiche erforscht, die sich einem den Text fast schon zügellos weiterspinnenden Interpreten eröffnen. Unter solchen Voraussetzungen völlig liberalisierter Werktreue gelangt man mit Scarlatti, wie Tharaud zeigt, bis in die Sphäre der französischer Impressionsmusik.

Christoph Ullrichs Scarlatti-Spiel bewegt sich auch mit dieser zweiten Edition unangefochten auf hohem Niveau unter Vermeidung jeder Art der Tempo-Wichtigtuerei. Der Vortrag wirkt in vielen Passagen eine Spur gelöster und in der Umsetzung vorgegebener Satzcharaktere auch empfindsamer gezeichnet als in der ersten Veröffentlichung. Jeder Hörer, der sich zum Beispiel der schier nervtötenden Aufgabe unterzieht, Richard Lesters Nimbus-Gesamtaufnahme der Sonaten im wahrsten Sinne des Wortes "durchzuhören", der wird Ullrichs ganz persönliches Wollen und Vermögen zu schätzen wissen. (...)

Peter Cossé

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