Höchstnote "10" für künstlerische Qualität, Klangqualität und Gesamteindruck

In Klavierkreisen heißt es, irgendwann komme jeder Pianist bei Bach an. Evgeni Koroliov, 1949 in Moskau geboren, spielte bereits als 17-Jähriger das gesamte Wohltemperierte Klavier in seiner Heimatstadt – natürlich auswendig. Seitdem hat er mehrfach die großen Werke „pour clavessin“ des Leipziger Thomaskantors öffentlich vorgetragen und 1990 mit der Einspielung von Die Kunst der Fuge (Tacet 13) sogar höchstes Lob aus berufenem Munde geerntet. Der Komponist György Ligeti wählte Koroliovs Aufnahme zu seinem persönlichen "Werk für die einsame Insel", denn diese Platte würde er "einsam verhungernd und verdurstend, bis zum letzten Atemzug immer wieder hören". 1999 folgten bei Hänssler Classic u. a. die Goldberg-Variationen und im Bachjahr 2000 die beiden Bände des Wohltemperierten Klaviers (Tacet 93 und 104).
Es verwundert nicht, dass Koroliovs bisherige Bach-CDs zu Referenzeinspielungen wurden. Mit größerer Souveränität und Überlegtheit lässt sich der Dschungel barocker Polyphonie kaum durchstreifen. Bei den Französischen Suiten glückt ihm zudem das Kunststück, den Zuhörer gleichsam auf eine transzendente Ebene zu heben. Das obligatorische Grundgerüst der Tanz-Abfolge Allemande – Courante – Sarabande – Gigue, in das Bach zur Steigerung des individuellen Charakters jeder Suite weitere Tänze wie Menuett, Gavotte, Bourrée, Air, Anglaise, Polonaise und Loure einfügte, belebt Koroliov durch extreme, jedoch nie unorganisch wirkende Tempounterschiede. Gewiss, den getragenen tänzerischen Charakter mancher Sarabande ersetzt er – wie bei der vierten Suite – durch einen rein meditationsartigen. Ebenso könnte man ihm vorhalten, die meisten seiner Interpretationsansätze lassen nicht nur jeglichen Bewegungsdrang, sondern auch Temperament weitgehend vermissen, manches wirke gar wie buchstabiert.
Bach dürfte zwar die Schritte zu den vormals populären Gesellschaftstänzen gekannt haben, aber die meisten waren zu seiner Hauptschaffenszeit schon aus der Mode und lediglich noch in der Kunstmusik präsent. Koroliov abstrahiert bzw. objektiviert das musikalische Geschehen also durchaus zurecht. Dass eine „bodenständigere“ Wiedergabe genauso möglich wäre, fällt nicht ins Gewicht, da der philosophische Gehalt, den er aus den vermeintlich schlichten Tänzen hervorholt, absolut überzeugt. Man höre nur das zur geistigen Übung mutierte Menuett aus der 3. Suite. Und plötzlich versteht man, warum diese sechs Suiten, die immer ein wenig im Schatten der artifizielleren Englischen Suiten stehen, den Beinamen „Französische“ wirklich verdienen: Sie sind es, die unverstellt ans Zivilisierte im Menschen appellieren.
Wesentlicher Bestandteil des bei aller Kontrolliertheit entrückten Spiels Koroliovs ist sein immenser Erfindungsreichtum im Auszieren der Wiederholungen der einzelnen Formteile. Der Hamburger Klavierprofessor verrät darin seine intime Kenntnis barocken Stilempfindens, das einst in der Improvisationskunst der Opernsänger gipfelte. Sein glasklarer, niemals hart wirkender Anschlag sowie das ihm eigene Talent, übergeordnete Zusammenhänge durch richtige Akzentsetzungen und ein untrügliches Timing kenntlich zu machen, erinnern an den legendären russischen Pianisten Samuel Feinberg. Dessen Bach-Platten aus den 1950er Jahren leiden unter einer mangelhaften Klangqualität. Die Aufnahmetechnik der vorliegenden Französischen Suiten ist dagegen ideal. Im Sinne einer akustischen Lupe trägt sie dazu bei, den Hörer in die Strukturen der Musik hineinzuziehen. Besser als Evgeni Koroliov hätte man auch diesmal bei Bach nicht ankommen können. Richard Eckstein

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