Erinnerung an eine Vollendung

Eine Hommage an Eduard Steuermann, Pianist und Komponist des Schönberg-Kreises

Von New York nach Darmstadt war es um 1960 nur ein kurzer Weg. Der Sog der "Ferienkurse für Neue Musik" zog auch die Berühmtheiten der Emigration hierhin, darunter Eduard Steuermann, den bedeutendsten Pianisten des Schönberg-Zirkels, inzwischen ein bewunderter Juilliard-Lehrer. Steuermanns Unterweisungen eröffneten Blicke in eine kompositorische Sphäre, die frei war von dogmatischen Verhärtungen.
Die Teilnahme an einer der wichtigsten Aufbruchserscheinungen der Moderne schloss den Respekt vor der Tradition der "großen Musik" ein. Mit dieser doppelten Perspektive entsprachen Künstler wie Steuermann dem rigiden Selbstanspruch der auf verbrannter Erde neu Drauflosbauenden wenig. Das Kultivierte, Integrative, in aller Entschiedenheit gleichsam Milde und Zögerliche von Steuermanns Künstlertum ließ ihn in einer Phase vorherrschend schriller Selbstdarstellungen unattraktiv erscheinen.
Heute hat man vielleicht mehr Sinn für Zwischentöne und für eine Wiedergabe-Vollendung, die nichts von Abgeschliffenheit oder Langeweile hat, vielmehr der genauesten Durchdringung der mu¬sikalischen Phänomene entspringt. Das analytische Vermögen demonstriert sich dabei niemals aufdringlich; die Arbeit an der klanglichen Klarheit bekommt etwas Selbstverständliches, fast Beiläufiges. Bei Steuermanns als klassisch geltenden Wiedergaben des Schönbergschen Klavier-Oeuvres denkt man unwillkürlich an das Diktum vom "konservativen Revolutionär". In Steuermanns Spiel verselbständigen sich die expressionistischen Gesten der Musik nicht; sie wirken eher brahmsisch eingebunden in eine von geheimer Kantabilität geleitete Linienführung.
Unter dem Einfluss der Serialisten entstand ein mehr von kühlem Konstruktivismus bestimmtes Schönberg-Bild, dem die wienerischen Aspekte fern lagen. Steuermann zählt indes eindeutig zur Wiener Fraktion der Schönbergianer. Der 1892 in Sambor (in der heutigen Ukraine) Geborene kam zunächst mit dem Kreis von Ferruccio Busoni in Berührung, dann erst mit Schönberg, dessen Persönlichkeit ihn lebenslang - auf durchaus ambivalente Weise, was bei dieser autoritären Figur nicht überrascht - in ihren Bann zog. 1936 ging Steuermann ins amerikanische Exil; er starb 1964 in New York. Nach strenger Zwölftonarbeit folgte die Erholung bei den Wiener Hausgöttern Natürlich blieben nicht nur in Darmstadt die Steuermann-Eindrücke der frühen Ferienkurs-Jahre lebendig. Doch es scheint kein Zufall, dass eine Wiederbelebungs-Initiative der Steuermannschen Kunst vor allem von einer Darmstädter Pianistin ausging - von Erika Haase, die der schon von Theodor W. Adorno ersehnten und von Musikern wie Michael Gielen und Alfred Brendel jetzt enthusiastisch begrüßten Tonträger-Edition nicht nur mit beigesteuerten Erinnerungen an den damaligen Steuermann-Unterricht, sondern auch mit besonderem editorischem Einsatz auf die Beine half.
Zentraler Bestandteil des soeben veröffentlichten CD-Projekts ist die Gesamtaufnahme der Schönberg-Klavierwerke, die 1957 für Columbia realisiert wurde und schon lange nicht mehr greifbar war (sie passte bequem auf eine LP). Das Originalband der Mono-Aufnahme scheint verschollen; die aktuelle CD resultiert aus einer geschickten LP-Übertragung. Die Klangwirkung ist plastisch und authentisch. Sie transportiert vor allem auch das bei aller Pedalsparsamkeit für Steuermann typische warme Timbre.
Das Stöbern in Steuermanns weitläufigem kompositorischen Schaffen wäre künftig Sache philologisch beflügelter Entdecker-Interpreten vom Schlage Kolja Lessings oder Herbert Hencks. Immerhin gibt der Hamburger Thomas Hell, den man wohl als einen aus zeitlicher Entferntheit den Intentionen der Steuermann-Ästhetik ganz nahen Klavierspieler bezeichnen kann, mit der zwischen 1949 und 1951 entstandenen Suite für Klavier eine gewichtige Probe aus Steuermanns eigenem kompositorischen Werk. Anders als in der zwölftönigen Schönberg-Klaviersuite opus 25 fehlt hier der neoklassizistische Bezug; die Satztitel verweisen eher auf Charakterstücke in der Art von Schumann oder Brahms - eine winzige perspektivische Drehung, die für die durchaus bestehende Unabhängigkeit dieses Schönberg-Jüngers bezeichnend ist.
Mehr als die Hälfte dieser zweiten CD ist Steuermanns Bearbeitungen für zwei und drei Klaviere gewidmet. Damit wird auf den hedonistischen Zug der Schönbergschule angespielt, die sich nach strenger Zwölftonarbeit gerne bei Wiener Hausgöttern wie Johann Strauß und Schubert erholte. Auf sublime Art üppig und zuweilen schmissig geht es auch bei dieser Steuermann-Hommage zu, wenn Erika Haase, Carmen Piazzini und Ulrike Moortgat-Pick zu zweit oder dritt die Strauß-Paraphrasen "Themes from Die Fledermaus" oder Poulencs "Toccata" (mit einem witzigen Feuerwerk hinzu erfundener Motive und Kontrapunkte) intonieren und dem Schubert'schen Müllerlied "Wohin" eine neue, rein instrumentale Inständigkeit verleihen.
Immer wieder kehrt man aber gerne auch zu Steuermanns Schönberg-Platte und ihren so gar nicht abstrakt-technizistischen Interpretationen zurück. Dafür schrieb Steuermann auch einen eigenen, bei aller Sachlichkeit persönlich akzentuierten Kommentar. In diesem macht er nur wenige Worte über die in etablierter Zwölftontechnik geschriebene Suite opus 25. Sehr viel ausführlicher äußert er sich dagegen über die 5 Klavierstücke opus 23 und ihren etwas verschlungenen Weg in die neue Kompositionstechnik. Noch ein Steuermann-Paradox: Das "Unterwegs" scheint diesen Meister der Vollendung und Erfüllung schließlich doch noch mehr interessiert zu haben als das Angekommensein.
Hans-Klaus Jungheinrich

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