Wojciech Raiski umd das Polish Chamber Philharmonic Orchestra hatten sämtliche Sinfonien von Beethoven für TACET aufgenommen. Jetzt wurden die Einspielungen zum ersten Mal in einer Ausgabe zusammengefasst: Alle Neune auf Vinyl.

Warum soll uns Schallplattenhörer das interessieren? Es dürfte nicht schwerfallen, einen Beethoven-Zyklus auf LPs zu erstehen - auf Flohmärkten, Plattenbörsen und im Internet begegnet einem eine Schwemme aus Bernstein, Böhm und Karajan. Gebraucht natürlich. Die Gesamteinspielungen für Kenner - Leibowitz oder Kegel, um zwei Beispiele zu nennen - erfordern längeres Suchen. Findet man aber auch.

Für eine Investition (immerhin 299 Euro) in das Beethoven-Paket von TACET sprechen zunächst reine Fakten: Die LPs haben eine tadellose Fertigungsqualität, klingen ausgezeichnet und sind ungespielt. Beim ersten und zweiten Punkt kann Gebrauchtvinyl manchmal mithalten, beim dritten eigentlich nie. Beliebte Nummern wie die Fünfte und die Neunte, eventuell auch die Eroica (Nr. 3) und die Pastorale (Nr. 6) zeigen oft erhebliche Gebrauchsspuren, während die anderen manchmal wie ungespielt sind. Und dann ist da ja noch die Musik, sprich: Interpretation. Wojciech Rajski, geboren 1948, war zwar während der Aufnahmen, die zwischen 2005 und 2015 stattfanden, kein junger Mann mehr, sondern ein erfahrener Dirigent, man hört, wie eng ihm das Orchester folgt, gleichzeitig war er aber immerhin ein bis zwei Generationen jünger als die Heroen aus der Zeit der LP, nach deren Platten Analogfans fieberhaft suchen. Um da gleich einzuhaken: Dass ihm bei Nr. 5 und 7 das Ausdrucksfieber von Carlos Kleiber, bei Nr. 9 die Gestaltungskraft von Erich Kleiber, in der Eroica die Wucht von Otto Klemperer fehlen und Karl Böhm für die Pastorale mit den Wiener Philharmonikern das namentlich in den Bläsern grandioser besetzte Orchester hatte, mag ja sein, aber solchen Solitären stellt Rajski einen entschieden moderneren Beethoven auf durchgehend hohem Niveau gegenüber. Das hat eigenen Wert. Die Interpretationen gehen im Vergleich nicht unter. Musikalisch einzige Alternative auf Vinyl wäre die Bremer Kammerphilharmonie unter Leitung von Paavo Järvi aus dem Jahr 2010 gewesen (Acousence Records DDKB LP1). Sie gilt als vergriffen und war, wie jetzt die TACET-Ausgabe, auf 1000 Exemplare limitiert. Eine der Järvi-Boxen wird gerade zum Fabelpreis von 940 Euro im Internet angeboten.

Schon die Wahl eines Kammerorchesters stellt ein Statement dar. Die historisch informierte Aufführungspraxis hat oft argumentiert, wie schmal die Orchester während der Uraufführungen manchmal besetzt waren: Nur 28 Musiker hoben 1804 die Sinfonie Nr. 3 im Palais Lobkowitz aus der Taufe. Obwohl größer besetzt, erzielt auch das Polish Chamber Philharmonic Orchestra seine kernige Wucht weniger durch Masse als durch Bündelung: Es spielt so präzise zusammen, dass die Musik durchgehend transparent, an den entscheidenden Stellen aber auch wirklich energisch klingt. Rajski stuft die Dynamik fein ab und wählt tendenziell rasche, aber noch nicht aus dem Rahmen fallende Tempi - ein Punkt übrigens, in dem er sich mit Järvi trifft. In ihrem bewusst angesteuerten Kontrastreichtum wirken dessen Interpretationen zwar raffinierter, auch spielt das Orchester womöglich noch durchsichtiger, aber die Polen kontern das mit Geradlinigkeit. Bei Rajski möchte man fast glauben, dass es das gibt: einen Dirigenten ohne Eitelkeit. Unwillkürlich kommt einem das Wort von den Kapellmeistertugenden wieder in den Sinn. Ihm geht es um Beethoven und nichts sonst - dieser Eindruck gewinnt über alle neun Sinfonien an Prägnanz. Auf modernen Instrumenten, aber in pointiertem, knackigem Spiel, das raue Klänge weder sucht noch meidet, sondern zulässt, wo sie sich ergeben, werden die Partituren unter Berücksichtigung historischer Erkenntnisse, aber ansonsten ohne Umschweife direkt in Klang umgesetzt. Die Musik fällt nie in das Pathos der 1970er-Jahre zurück, als Revolutionäre wie Gardiner oder Harnoncourt den Paradigmenwechsel im sinfonischen Repertoire noch nicht durchgesetzt hatten. Alles in allem gelang Rajski und dem von ihm 1982 gegründeten Orchester eine Beethoven-Gesamtaufnahme, die in ihrer Klarheit, in ihrer Kraft und in ihrem Verzicht auf jegliche „Mätzchen" auch die Tradition von Interpreten wie Szell, Kegel oder Zinman fortsetzt.

Aber der Klang - auch und gerade im Vergleich zu den Einzelausgaben? Ich habe den ersten Satz der Pastorale für einen Vergleich zwischen der früheren „Tube only"-Version und der Neuabmischung genutzt und frustriert gemerkt, wie Notizen immer wieder in Klischees mündeten, obwohl man gerade das als Rezensent vermeiden möchte. Trotzdem wirkt die Einzelausgabe auf mich buttriger, runder, wärmer, bei gleicher Grundlautstärke satter und im Forte pfundiger. Die noch feiner aufgelöste Binnendynamik und umrissschärfere Zeichnung ziehen mich aber eher zur Neuausgabe - so sehr mich auch die alte begeistert hat. Geschmacksfrage? Wohl mehr als das: Die neuen Pressungen erlauben den tieferen Blick in die Musik. Gerade in der Sinfonie Nr. 6 spielen die Bläser eine tragende Rolle. Wenn zwei Klarinetten, Oboen oder Hörner parallel spielen, lassen sie sich jetzt besser als zwei Schallquellen wahrnehmen. Auch der Streicherapparat erscheint luftiger. Verlaufen Steigerungen über mehrere Takte, dann führt mir die neue Version deutlicher vor Ohren, wie genau dosiert Wojciech Rajski den Volume-Regler öffnet. Die größere Rauscharmut und klareren Konturen lassen musikalisch-interpretatorische Details zutage treten, die im so harmonischen und satten Klang der Erstausgabe ein wenig im Hintergrund bleiben. Um es klar zu sagen: Wir sprechen in beiden Fällen von allerfeinstem Vinyl.

Vielleicht klang die frühere Ausgabe sogar „analoger", um im Wortfeld der Klischees zu bleiben, aber die neue gibt präziser wieder, was vor den Mikrofonen geschah. Der Unterschied ist aber weder so groß noch so eindeutig, dass ich jetzt alle Einzelausgaben verkaufen würde, hätte ich sie denn, um auf die neue Gesamtedition umzusteigen. Die aber bekommt eine dicke Empfehlung: die besten Neun, die man zurzeit auf Vinyl bekommt, und auch unabhängig vom Tonträgerformat ein unbedingt hörenswerter Zyklus.

Heinz Gelking

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