Auf seiner Reise durch Bachs Klavierkosmos unternimmt Evgeni Koroliov auch nach der berühmten Kunst der Fuge-Einspielung immer wieder Abstecher in die schwer zugänglichen Gefilde gelehrtester Kontrapunktik. Werke wie das sechsstimmige Ricercar aus dem Musikalischen Opfer sind dermaßen kompliziert gebaut, dass sich das Erlebnis vollendeter harmonischer Auffächerung ausschließlich dem Spielenden offenbaren wird, in dessen Händen alle Fäden zusammenlaufen. Doch auch für den mitlesenden Hörer wird das Stück zu einer wunderbaren musikalisch-intellektuellen Unternehmung, wenn er genügend Zeit sowie solide Kenntnisse über den barocken Kontrapunkt mitbringt. Auf der anderen Seite vermag das Ricercar auch den unbefangen Lauschenden in seinen Bann zu ziehen – sofern er sich Musik öffnen möchte, die zehn Minuten lang auf jegliche weltlichen Gesten verzichtet, die niemanden beeindrucken muss, die in ihrer vollendeten Meisterschaft so unspektakulär erscheint.
Diese ruhige Zen-Atmosphäre, die Bachs Kunst in solchen Momenten ausstrahlt, ist das prägende Merkmal der CD. Die beiden Hauptwerke, eben das Ricercar und die c-Moll-Orgelpassacaglia in Koroliovs vierhändiger Fassung, heben sich durch ihre Länge, musikalische Dichte und den enormen Schwierigkeitsgrad von den übrigen Stücken ab und beanspruchen das gesamte Können von Evgeni Koroliov und seiner Partnerin Ljupka Hadzigeorgieva. Ihnen gegenüber bilden die kürzeren Choralvorspiele aus dem 3. Teil der Clavierübung ein Kaleidoskop von Barockminiaturen, teils schmeichelnd, teils meditativ, teils bewusst spröde und von Bach stets ganz schlicht gesetzt. Genauso ökonomisch hat György Kurtág eine Auswahl anderer Choralvorspiele für Klavier zu vier Händen bearbeitet und damit ein weiteres Mal seine große Kunst demonstriert, auch als Arrangeur mit wenigen Tönen weite Klangräume aufschließen zu können. Das einzige Werk, das bewusst mit vielen Noten und spieltechnischen Herausforderungen protzt, ist die Lisztsche Transkription des Orgelpräludiums mit Fuge in a-Moll am Schluss der CD. Doch auch hier setzt Koroliov ganz auf die innere Strenge eines durchstrukturierten Aufbaus und verzichtet auf die virtuosen Showgesten des spätromantischen Stils, mit denen Franz Liszt dieses Stück im Konzert publikumswirksam zu inszenieren wusste.
Vieles könnte man nun schreiben über die Details der Interpretation – doch angesichts der hohen Qualität und lebenslangen Beschäftigung mit Bach, die das Spiel von Evgeni Koroliov und Ljupka Hadzigeorgieva auszeichnet, wäre auch dieses mehr eine intellektuelle Übung als wirklich notwendig. Bedeutsamer scheint es mir, auf die meditative Magie der hier versammelten Werke zu verweisen und den beiden Pianisten Respekt für die gewaltige Arbeit zu zollen, die hinter dieser Aufnahme steckt. Dadurch ist ein Album entstanden, das uns etwas Seltenes ermöglichen kann: nämlich in Bachs Musik den unbewussten, privaten Teil des eigenen Selbst widerhallen zu hören, dessen man erst gewahr wird, wenn alles in einem zur Ruhe kommt.
Henri Ducard<< back