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Künstlerische Qualität: 9 von 10
Klangqualität: 10 von 10
Gesamteindruck: 10 von 10

Die aktuelle LP-Edition mit Beethovens Symphonien unter Wojciech Rajski erklingen in vollkommener Deutlichkeit, weitestgehender tonaler Verständlichkeit, hervorragender Einheitlichkeit. Der runde, mal warme, mal direkte, stets transparente Orchesterklang wirkt sehr vorteilhaft zumindest für Alle, die es nicht staubtrocken oder gläsern mögen: Die Aufnahmen basieren auf der Akustik polnischer Kirchenarchitektur (Stella Maris in Sopot; nur für die 2015 aufgenommene Neunte wurde eine andere gewählt). In Generalpausen sind zwei Sekunden Nachhall / Tonschatten hörbar, mithin befinden wir uns an der oberen, noch sinnvollen Grenze. Doch die knackige Artikulationsart des Polish Chamber Philharmonic Orchestra Sopot wirkt dem Nachhall entgegen bzw. fügt sich so ein, dass man den Sätzen der Aufnahme gespannt zuhört.

Die ersten drei Symphonien

Der harmonisch vertrackte, weil uneindeutig zentrierte Beginn der Ersten erscheint dynamisch klug geführt, der nachfolgende Kopfsatz macht einfach gute Laune durch herrliche Bläsermischungen und frische Spielfreude, welche im übrigen fast die ganze Edition vorteilhaft trägt.

Bemerkenswert ist etwa auch die Einleitung zum Finale der Ersten Symphonie: tastend, suchend, spannend, zunächst zaghaft, dann aber sehr frisch bewegt. In den langsamen Sätzen der ersten beiden Symphonien vermisse ich ein wenig jene „erlesene Kantabilität und Klangschönheit“, welche dem langsamen Satz der Zweiten Symphonie – im historisch sehr korrekt gefassten Begleittext von Thomas Seedorf – auf den (Klang)leib geschrieben wird ...

Beim Hören der Eroica spielen die Musiker einander die einkomponierten Motive wach und sensitiv zu; nachgerade alles wird hörbar, und dies in einleuchtender Folgerichtigkeit (Richard Wagner hörte ja den 1. Satz als eine zusammenhängende Melodie) ... Die letzten Minuten der Marcia funebre gelingen ohne jedes Pathos geradezu magisch! Über die Phrasierung des Finalthemas dieser Eroica könnte man allerdings stolpern: Die Viertaktgruppe (oder: der „Vordersatz“) mit der Silhouette es´- b´- b- es´ auf dem letzten es´ (I. Stufe) zu betonen, wie es dem Thema hier leider eingraviert wird, widerspricht meinem elementaren tonalen Spannungsempfinden. Überzeugender gelang die Themengestaltung bei Horenstein, Klemperer, Skrowaczewski, Bernstein, Barenboim, Celibidache, Thielemann, Muti, Vänskä... Denn die reine Quint ist ja in Aufwärtsrichtung aktiv, extrovertiert, und was sie öffnet, schließt die Rückkehr zum Grundton doch dann am besten, wenn letzterer vornehm zurückgehalten wird. Ähnliches lehrte übrigens auch Beethovens Schüler Carl Czerny. Zur Phrasierung und Variierung eben dieses Themas in Beethovens Klaviervariationen op. 35 unter den Händen von Pianistinnen und Pianisten gäbe es noch Weiteres zu sagen ...

4., 6. und 8. Symphonie als Highlights der Edition

Rajski und seine Musiker bereichern den Katalog um eine hervorragende Vierte, fabelhafte Sechste sowie eine sehr gute (nur an wenigen Stellen vielleicht etwas zu eckige) Achte Symphonie. Wie schon Peter Cossé zu den Veröffentlichungen auf CD geschrieben hatte: Alles wirkt „duftig, in forschen Tempi detailliert ausgekundschaftet, in gesunder Fülle“. Nur gelegentlich entstehen Zweifel, Vorbehalte, wenn „Rajski und seine Sopoter in den Finalsätzen extrem auf die kammerorchestrale Tube drücken. Eine Spur mehr Zurückhaltung im Tempo würde die Wirkung im Sinne von Brillanz, wirbelnder Intensität und Detailgenauigkeit (in den schnellen Schlenkern der hohen Streicher!) um einiges erhöhen. Aber insgesamt handelt es sich um eine überzeugende, klanglich exquisite Einspielung, die … im weiten Feld der Konkurrenz-Produktionen eine vorderen Platz in Anspruch nehmen darf“!

Zur nie endgültig lösbaren Tempofrage

Wenn freilich Christof Jetzschke bemerkt hat, dass manches „mit einer nicht immer nachvollziehbaren Tempogestaltung und einer oft unzureichenden Innenspannung wie beiläufig am Hörer vorüber(zieht)“ und „kaum im Gedächtnis haften“ bleibt (nachzulesen, wie oben P. Cossé, in Klassik heute online), wirkt dies im Falle einiger weniger Ecksätze, wo Dirigent und Orchester uns ins Übereilte und Flache hineinziehen, tatsächlich nachteilig, auch im Moll-Scherzo der Neunten, wo wir für mein Empfinden, verglichen mit guten früheren Interpretationen, leider Richtung Zeichentrickfilmmusik driften, bloß nett, aber nicht wirklich (später) Beethoven.

Beethovens Siebte ein wenig enttäuschend

Am Ende des 1. Satzes der Neunten wie auch ganz gegen Ende der Siebten komponiert Beethoven in den Streichern chromatisch drohende Gänge. Diese bilden bei Rajski bedauerlicherweise nur den (dynamisch vernachlässigten) Hintergrund und eben nicht eine dissonant gewürzte Stimmung orchestraler Dramatik! Das mag ein Detail sein, Stimmführung und „Ausdruck“ betreffend. Aber die Siebte befriedigt auch insgesamt nicht so ganz.

Selbst wenn ich Richard Wagner als Menschen und als Rassisten absolut inakzeptabel finde, sind seine Worte zur Siebten nach wie vor relevant: „Die über Alles herrliche A-dur-Symphonie“: Vom „wonnigen Übermuthe der Freude“ ist die Rede; Wagner versteht die Siebte als „Apotheose des Tanzes selbst: sie ist der Tanz nach seinem höchsten Wesen …, bald mit elastisch zarter Geschmeidigkeit, schlank und üppig ... bald lieblich, bald kühn, bald ernst, bald ausgelassen, bald sinnig, bald jauchzend“. Derartige Dimensionen löst Rajski bei den raschen Sätzen in A-dur zu wenig ein.

Herrlich realisierte Sinfonia pastorale

Dass wir es bei Rajskis Beethoven-Symphonik nie mit einer „aufgesetzt dramatischen“ Gangart zu tun haben, schrieb vor Jahren bereits Ramus van Rijn. Fürwahr! Namentlich bei der Pastoralsymphonie führt die vorliegende Besetzung „in eine Welt von erlesener … Delikatesse, in der weder die seismographisch auf jeden Spannungsverlust reagierenden Sequenzen des Kopfsatzes noch die breiten Wogen … oder die polternden Donnerschläge des vielfarbigen Gewitters“ enttäuschen! In der Veröffentlichung als DVD Audio erhielt diese Interpretation schon vor Jahren eine „Klassik heute Empfehlung“, der ich mich sofort anschließe.

Die Neunte

Im Inneren der Neunten gelingt das Adagio schön (wenn auch in der Schallplattengeschichte manche Dirigenten zugegeben schwer verbalisierbare Qualitäten wie: Dank, Ergebung, Espressivo noch tiefer ausloten konnten). Der Kopfsatz erscheint weithin hörenswert, vor allem aber das Finale ist ganz ausgezeichnet gelungen, indem auffallend gute Sänger glücklich agieren. Die Phrasierung eines der allerberühmtesten Themen (Stichwort in unseren Tagen: Europahymne) gehört zu den vielen vollkommen überzeugenden Merkmalen der Einspielung. Um es genauer anzudeuten, die mit dem Grundton d anhebende Spannungszunahme, die zur V. Stufe auf die Oberquint (den Ton a) führt; bei Rückkehr auf den Grundton (d) hingegen realisieren wir unter Rajski Verzicht auf Gewicht und keinerlei künstlich zugefügt Spannung. Dies entspricht der Einsicht, dass die I. Stufe einer Tonart zwar fundamental ist, aber hier keine zu betonende (Dis)sonanz! Durch derart phrasierte Zunahme und Abnahme wie bei Rajski wird das Thema von Gefahren wie Routine, Banalität und Abgedroschensein erlöst, befreit. So erscheint auch das Weitere im besten Sinne nicht mechanisch, nicht erstarrend, vielmehr rund und lebendig. So gespielt kann der Finalsatz als ganzer überzeugen – exzellent!

Fazit

Diese polnische Besetzung bringt uns den optimistischen, freudvollen Beethoven nahe. Das Brio der musikalischen Formen kommt voll zur Geltung, wird jedoch nicht künstlich „aufgerauht“. Manches, etwa in der Fünften, gerät vielleicht allzu schwungvoll durchgepeitscht und wirkt daher ein wenig durchgerattert, fern von angemessenem Sprachcharakter, zum Nachteil der Narrativität der Musik; so bleibt es dann aus, dass tiefste Betroffenheit entsteht.

Doch das meiste in dieser Produktion überzeugt und bereichert die Wirkungsgeschichte des Musikgiganten Beethoven, der heute musikalisch und politisch ja unvermindert Großes zu vermitteln hat.

Dr. Matthias Thiemel

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