"Als bedeutenden Bach-Interpreten hätte man ihn schon vor 10 Jahren würdigen können. 1990 veröffentlichte ein kleines Stuttgarter Label Bachs Kunst der Fuge in der Einspielung eines so gut wie unbekannten russischen Pianisten. Für György Ligeti war das die CD für die einsame Insel. Der Komponist äußerte sich überzeugt davon, er würde Koroliovs Bach, käme es wirklich darauf an, "verlassen, verhungernd und verdurstend bis zum letzten Atemzug hören." Ein großes Wort. Ansonsten aber lässt sich nicht unbedingt sagen, dass die in der Tat faszinierende, im vergangenen Jahr glücklicherweise wieder veröffentlichte Aufnahme eine halbwegs adäquate Resonanz erfahren hätte.
Heute ist Evgeni Koroliov fünfzig Jahre alt und nach wie vor eine weitgehend unbekannte Größe. Das Bach-Jahr sollte das ändern - Jubiläen können schließlich auch ihr Gutes haben... Bach und Koroliov - das ist eine fast lebenslange Beziehung. Siebzehnjährig spielt er in seiner Heimatstadt Moskau das Wohltemperierte Klavier, möglicherweise auch unter dem Einfluss der in der Sowjetunion wie ein lebender Mythos verehrten Pianistin und großen Bach-Interpretin Maria Judina. Sie gab dem jungen Pianisten gelegentlich kostenlosen Unterricht, genauso wie ihr Kollege Heinrich Neuhaus, die zweite russische Pianistenlegende nach dem Krieg. Von daher verkörpert Koroliov auch eine große Tradition, die er nicht in Moskau oder Sankt-Petersburg, sondern als Professor der Hamburger Musikhochschule weitergibt. Verkehrte Welt... Koroliov ist ein Meister der Klangfarben, vermag die kammermusikalische Transzendenz einer Triosonate ebenso zu imaginieren wie das Aufbrausen einer voll registrierten Orgel. Seine Deutung der Kunst der Fuge klingt wie eine lustvolle Widerlegung der These vom spekulativen Spätwerk Bachs. Sie changiert zwischen kontemplativer Innenschau und prallem Leben, jenseitiger Versenkung und ausgestellter Virtuosität. Noch im rigidesten Kontrapunkt bleibt Bach für Koroliov ein großer Melodiker. Und in einigen der langsamen Moll-Präludien und -Fugen des Wohltemperierten Klaviers streift er sogar einen ins Romantische weisenden Tonfall, sucht tastend nach jenem Klang der Entgrenzung, der ahnen lässt, dass Bach hier unterschwellig auch von letzten Dingen reden wollte. - So wird Koroliov zum Analytiker und Mystiker in einer Person. Mit einem runden Klavierklang stellt er die phänomenale Durchhörbarkeit des Kontrapunkts her, die auch Friedrich Gulda 1972 in seiner bahnbrechenden Einspielung des Wohltemperierten Klaviers mit gläsernem, fast cembaloartig wirkendem Klang erreichte. Doch zugleich erinnert Koroliov wie in einem entfernten Nachhall an die Poesie, die ein Edwin Fischer in seiner Bach-Deutung der dreißiger Jahre entwickelte. -- Bach auf dem Klavier - eine lange Geschichte. Fischer, Gould, Gulda sind darin nur einige Größen. Aber offen ist sie nach wie vor. Koroliovs Bach macht das nach Jahren wieder deutlich. Und György Ligeti wird vielleicht mit der einen CD auf der einsamen Insel doch nicht auskommen."
Oswald Beaujean

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