--> zur Original-Kritik

Vor zehn Jahren begann der jetzt 62-jährige Christoph Ullrich sein Mammutprojekt: die Einspielung sämtlicher 555 Klaviersonaten von Domenico Scarlatti (1685-1757). Das Vorhaben, es wird gemäß einem im Arbeitszimmer des Pianisten angebrachten Ablaufplan 2028 abgeschlossen sein, darf mit vollem Recht schon jetzt als pianistische Großtat bezeichnet werden.

Mount Everest virtuoser Anforderungen

Nicht nur verlangt die Präsentation einer Integrale dieses immensen Korpus einsätziger Clavierkompositionen Courage und eine Überzeugung davon, dass man zu diesen Werken einen eigenständigen Interpretationsansatz zu liefern habe; die Darstellung von Domenico Scarlattis Clavierœuvre erfordert auch eine immense pianistische Virtuosität. Nicht nur Scarlatti selbst, sondern auch seine hochfürstliche Schülerin Maria Barbara de Bragança – portugiesische Prinzessin und später als Gemahlin von Ferdinand IV. spanische Königin – müssen angesichts der technischen Schwierigkeiten der Stücke über außerordentliche technische Fertigkeiten auf dem Cembalo verfügt haben. Die Instrumente, die am portugiesischen und am spanischen Königshof der Prinzessin und späteren spanischen Königin zur Verfügung gestanden haben, entsprachen den modernsten Entwicklung der Clavierinstrumente. Somit bleibt die Darstellung dieses überaus vielgestaltigen claviristischen Kosmos heutzutage in erster Linie eine Anforderung an den Interpreten und seine Gestaltung der Stücke auf seinem Instrument. Das beweist auch die Vielzahl der geglückten Einspielungen auf Cembalo, Fortepiano und Konzertflügel, die bisher von den Sonaten Domenico Scarlattis vorliegen.

Der Dritte im Bunde

Der Komponist wurde, wie J. S. Bach und G. F. Händel, im für die Musikgeschichte so wichtigen Jahr 1685 geboren. Er galt in der Folge allerdings lange nicht als gleichwertig mit seinen Jahrgangskollegen, wurde dann aber ab der zweiten Hälfte 20. Jahrhundert als ein für die Geschichte der Claviermusik besonders bedeutender Komponist anerkannt. Als Musik- und Clavierlehrer der offensichtlich pianistisch hochbegabten portugiesischen Prinzessin und nachmaligen spanischen Königin Maria Barbara de Bragança hat er seine in fünf Sammlungen hinterlassenen Sonaten offensichtlichen für ihren pianistischen Gebrauch geschrieben. Dank sorgfältiger Überlieferung ist Scarlattis Sonatenschaffen der Nachwelt erhalten geblieben. Charakteristisch für Scarlattis lebendigen Klavierstil sind auch die vielfältigen Einflüsse, die er aus der portugisischen und spanischen Volksmusik, dem Flamenco sowie der arabische und jüdischen Musik aufnahm und so ein weites Spektrum von Affekten von Innigkeit bis zum temperamentvollen Ausbruch absteckte.

Instrument und Interpret im perfekten Zusammenspiel

Christoph Ullrich hat selbst darüber berichtet, dass sein „wunderbarer Steinway-Flügel“ ihn davon überzeugt habe, das Scarlatti-Projekt anzugehen, als er eines Abends bei Schneegestöber vor dem Fenster eine Sonate von Domenico Scarlatti spielte. Mit seinem reichen Klangspektrum und seiner schnellen Mechanik ermögliche gerade dieses Instrument „die für Scarlatti typischen rasenden Tonwiederholungen bewältigen zu können“, wie die FAZ in ihrem Artikel vom März dieses Jahres den Künstler zitiert.

Dazu muss natürlich unermüdlicher Übungsfleiß kommen, um den technischen Ansprüchen der Stücke zu genügen: „Viele Stellen muss ich mit Geduld viele Wochen lang üben.“, sagt Christoph Ullrich. Die intensive Arbeit hat sich weidlich ausgezahlt, und die makellose Tontechnik von Tacet trägt das ihrige dazu bei, auch diesen sechsten Teil dieser Integrale des Sonatenwerks von Domenico Scarlatti zu einem ungetrübten und beglückenden Hörgenuss zu machen.

Detmar Huchting

<< retourner