Fast modern klingen diese mittelalterlichen Gesänge, wenn in der Motette "Hare, hare, hye" zwei bewegte Oberstimmen zwei unterschiedliche Texte vortragen: In pikardischer Sprache wird das bedauernswerte Schicksal der Menschen in Arras geschildert, die von den Engländern das Bier teuer kaufen müssen. Datunter stottert der Tenor immer nur das Wort "Balaam". Eine volkstümliche Szene wird hier beschworen, dahinter steckt aber ein kompliziertes Kompositionsverfahren. Auf ihrer CD stellen die vier Frauen des Ensembles Providencia zahlreiche solcher Beziehungen zwischen England und Frankreich im Mittelalter vor. Ein eindrucksvolles Beispiel ist das berühmte Winchester Tropar aus dem 11. Jahrhundert, die früheste Quelle mit mehrstimmiger Musik, die in Frankreich geschulte Mönche für die Reformkathedrale in Winchester anlegten.

Eines der schönsten Stücke der CD ist die Motette "Ex semine" aus dem 13. Jahrhundert. Die Oberstimmen schwingen im sanften Rhythmus in bewegten Melodien. Sie singen zwei geistliche Betrachtungen über die jungfräuliche Geburt "ohne Samen" und werden beständig grundiert von der Unterstimme, die als Gegenposition das Wort "ex semine" - "Aus einem Samenkorn" vorträgt. Dem Ensemble Providencia gelingt es, die für unsere Ohren doch fremd anmutende Musik durch eine glockenklare Intonation, durch ein Auskosten der klanglichen Reibungen und durch eine sorgfältige Artikulation der vielen Dialekte und Sprachen, vom Anglonormannischen bis zum Mittelenglischen, erlebbar zu gestalten. Da spielt es fast keine Rolle, ob Motette, Conductus, Rondellus und wie diese Gattungen alle heißen, im Mittelalter wirklich vonFrauen gesungen wurden oder nicht.

Richard Lorber

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