Wenn hier der Pianist Christoph Ullrich seine zweite Folge der Scarlatti-Sonaten vorlegt und zugleich dem Hörer ans musisch schlagende Herz legt, dann sollte man nicht vergessen, dass der Herausgeber in seinem „Volume“-Betreiben einer gewissen Sprunghaftigkeit verpflichtet bleibt. Ullrich hat sich in seinem auf Langfristigkeit angelegten Projekt längst weiter hervorgetan, ja hervorgewagt, denn eine Einspielung aller Scarlatti-Sonaten erfordert Mut, Durchhaltevermögen und nicht zuletzt auch Unterstützung durch die mediale Vermittlungsinstanz eines diskophilen Herausgebers. Ullrich – das ist mein Eindruck von Edition zu Edition – hat sich in den wundersamen Miniaturenkosmos der rund 550 Sonaten eingearbeitet, ist eingetaucht auf der Grundlage von musikintellektueller Übersicht, von Begeisterung und zweifellos auch wachsendem Missionseifer, nämlich dem Musikfreund die Welt Scarlattis in all ihren kompositorischen und instrumental-kommunikativen Verästelungen nahe zu bringen.
In der vorliegenden Ausgabe befasst sich Ullrich mit den Sonaten Nr. 43 – 97 in Berücksichtigung des von Ralph Kirkpatrick vorgelegten „K“-Verzeichnisses. Ältere Hörer und unter ihnen echte Scarlatti-Enthusiasten hatten sich ja – nicht zuletzt unter dem Eindruck der Einspielungen von Horowitz, Ciccolini, Tipo, Zacharias oder auch von András Schiff – längst an den Longo-Kennungen orientiert und sich dementsprechend auch etwas unsicher zwischen den beiden Ordnungssystemen hin und her bewegt. Neue Nummerierungen werden erfahrungsgemäß nur zögernd angenommen. Die von der Internationalen Stiftung Mozarteum vorgeschlagenen, sozusagen auf den letzten Wissensstand gebrachten Köchel-Nummern haben sich aus diesem Grund im musikalischen Alltagsgebrauch nicht durchgesetzt.
Christoph Ullrichs Einspielung der genannten Sonaten-Folge zeigt den Interpreten auf pianistisch-gestalterisch hohem Niveau. Es handelt sich bei ihm, da bin ich sicher, um „lesende“ Bedachtsamkeit und in der Übermittlung um eine Mischung aus gezähmter Brillanz in den raschen Partien und überlegter Gefühlsentäußerung in den ruhigen, nicht selten auch erotisch angehauchten, also brodelnden, lodernden Sonaten-Passagen. In einer Gesamtaufnahme kann es der Ausführende freilich nicht umgehen, auch weniger attraktive Stücke einzustudieren. Es kann ja nicht überraschen, dass sich jene namhaften Pianisten, die sich wie Horowitz oder Ciccolini für Scarlatti ins Zeug gelegt haben, in ihren Repertoire-Entscheidungen ähnlich verhalten haben. Noch deutlicher wird dieses Verhalten, wenn es sich um Interpreten handelt, die in ihre Programme nur eine kleine Auswahl von drei bis fünf Sonaten einbeziehen. Ullrich gelingt es jedoch, mit Esprit und wenn nötig auch mit Feuer über manche musikalische Steifheit und Vorherhörbarkeit der Materie hinweg zu helfen. Wenn die Sonaten jedoch Charakter bezeugen und für den Pianisten dankbare Aufgaben enthalten, dann erweist sich Christoph Ullrich inzwischen als ein Scarlatti-Anwalt von höchster Autorität.
Christoph Ullrich bezeichnet im Begleitheft die Auswahl K 43 – 97 als „Scarlattis Wunderkammer: Der Band Venedig XIV“. Es handelt sich um den umfangreichsten Band in der venezianischen Marciana-Nationalbibliothek. Zwei Jahre hat er sich mit dieser Sammlung beschäftigt – und er verrät uns: „Was konnte ich alles in diesen kaum jemals beleuchteten Tropfsteinhöhlen finden und bewundern! Den einzigen Variationen-Zyklus K 61, eine Sonate, die fast ausschließlich aus Viertelnoten besteht – K 83 –, einige Tanzsätze, die aus einem verschollenen Suitenkabinett gefallen zu sein scheinen – Capriccio K 63, Gavota K 64, Gigha K 78.“ Die Sonaten mit Basso continuo K 81, 88 – 91 bereiteten Ullrich „einige Kopfschmerzen“. So kam es, dass er die Akkorde in den eigentlich als Triosonaten konzipierten Stücke K 88 – 91 einem Gitarristen übertrug. Das Resultat mit seinem Partner Stefan Hladek ist von unauffälliger Lebendigkeit und aufführungspraktischer Freizügigkeit, denn die Gitarre wird nicht nur im engen Rahmen des barocken Basso-Vokabulars eingesetzt wird.
Peter Cossé
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