Als ich am 3. August 1995 die große Ehre und Gelegenheit hatte, Sándor Végh in seinem Haus in Salzburg zu interviewen (es sollte sein letztes Interview sein), äußerte er sich sehr glücklich, dass das Spiel seines legendären Végh-Quartetts eine Nachfolge-Formation gefunden habe im Keller-Quartett: „Es wird weiterhin große Musik gemacht und Bartók verstanden.“ Primarius András Keller war ein musikalischer Ziehsohn seines großen Landsmanns, und er hat damals mit seinem Quartett wunderbare Aufnahmen u. a. von Bartók und Schubert für Erato gemacht.
Nun hat sich András Keller schon lange dem Dirigieren zugewandt und für Tacet einen Bruckner-Zyklus begonnen, bei dem er sich mit seinem hervorragenden Concerto Budapest erfreulich viel Zeit lässt und mit klar strukturierten, fein empfundenen und das Drama der großen Form brillant entfaltenden und balancierenden Darbietungen heute als einer der besten Bruckner-Dirigenten dasteht, dessen Beispiel für den wachen Hörer so manchen Schnellproduzierer bloßstellt.
Einmal ungeschnitten, einmal nachbearbeitet
Die Aufnahme der Siebten Symphonie besticht mit einer Besonderheit, die wohl im Aufnahmejahr 2019 in der Luft lag – denn im selben Jahr hat der Verfasser dieser Zeilen in Barcelona mit dem Orquestra Camera Musicae die in vieler Hinsicht Bruckner sehr verwandte Dritte Symphonie von Martin Scherber uraufgeführt und aufgenommen und sich anschließend für die Veröffentlichung als Doppelalbum entschieden, auf welchem sowohl der absolut ungeschnittene Konzertmitschnitt als auch die Studioaufnahme vom Folgetag zu hören ist. Er sollte mit dieser ‚Pioniertat‘ nicht alleine sein. Nun also auch das Concerto Budapest, unter dem Motto ’Cut or Uncut?’, mit einer geschnittenen und einer ungeschnittenen Version von ein und derselben Symphonie vom Januar 2019 im Budapester Italienischen Institut – mit dem Unterschied, dass es sich um Aufnahmen aus dem gleichen Saal und ganz ohne Publikum handelt. Die Hörer werden übrigens hier vom Produzenten ganz offen aufgefordert, mitzuteilen, was ihnen mehr zusagt, und natürlich tue ich das an dieser Stelle auch.
Bei einmaligem Hören ziehe ich den ungeschnittenen Mitschnitt vor, denn er hat den noch natürlicheren Flow. Jedoch ist die geschnittene, in den Details optimierte Aufnahme von der musikalischen Qualität sehr nah dran an der unbearbeiteten, und von daher ist auf Dauer wohl doch die nachträglich verbesserte Aufnahme vorzuziehen, weil nicht die selben kleinen Pannen (sie sind sehr unerheblich) durch Wiederholung stören. Aber: es ist wirklich alles sehr nah beieinander und letztlich jedem selbst überlassen, was ihm mehr zusagt. Das Adagio ist auf die Sekunde gleich lang.
Ausgezeichnete EinspielungDie Tempi sind sehr natürlich gewählt, überwiegend eher auf der kontemplativen als auf der triebhaft straffen Seite. Die kontrapunktische Transparenz und sanglich sinnfällige Ausphrasierung der Haupt- und wichtigsten Nebenstimmen sind weitestgehend exzellent realisiert, auch für die Dramaturgie der harmonischen Entwicklung hat Keller ein feines Gespür. Mir scheint, dass ihm in einigen entscheidenden Tutti-Passagen ein paar Streicher zu wenig zur Verfügung stehen, um eine ideale Kraft und Pracht zu entfalten, aber das wird sehr überzeugend kompensiert. Wenn auf etwas im Besonderen noch hingewiesen werden sollte, so darauf, dass es auch im Pianissimo-Tremolo möglich sein sollte, die Stimmverläufe und harmonischen Abfolgen deutlicher hervorzubringen und damit eine gelegentlich wesentliche zusätzliche Dimension der Kontrapunktik hinzuzufügen, und dass auch Pizzicati mit kantablem Ausdruck gestaltet werden können. Die abrupten Tempo- und Charakterwechsel im Finale sind weitestgehend sehr plausibel zur Geltung gebracht, die Steigerung im langsamen Satz ist gut zum Höhepunkt hin disponiert, das Scherzo hat den Drive und Biss, den es braucht, und die Einleitung der Coda des Kopfsatzes ist sehr spannungsvoll gestaltet mit ihren synkopischen Einsätzen nach der Eins – um einige wesentliche, meist kritische Punkte zu benennen. Insgesamt eine ausgesprochen bemerkenswerte Veröffentlichung, mit einem exzellent besetzten und einstudierten Orchester (die Streicher an den heiklen Stellen sehr sauber!) und einem musikalisch hochgebildeten Dirigenten mit klarem Kopf, tontechnisch grandios eingefangen und didaktisch unterhaltsam im Booklettext von Tonmeister und Produzent Andreas Spreer. Eine vorbildliche, originelle, wertvolle Produktion.
Christoph Schlüren<< retourner