Literaturbeilage "Die Zeit"
Nr. 47 / 2003
von Volker Hagedorn
Mit gespitzten Ohren in die Nische
Kleine Labels erobern den kriselnden Klassikmarkt mit klaren künstlerischen Konzepten und viel Idealismus
(...)An solchen [aufnahmetechnischen] Gipfeln orientiert sich der Suttgarter Tonmeister Andreas Spreer mit einer
Konsequenz, die sein Label TACET fast zum Synonym für Audiophilie gemacht hat. Seit 14 Jahren verbindet Spreer hier Alt und
Neu. Lässt Daniel Gaede Geigenschmankerln vorm Röhrenmikrofon der Fünfziger spielen, nimmt das Auryn-Quartett zugleich für
Langspielplatte und den modernen Raumklang der DVD-Audio auf und konnte manches aus seinem Katalog schon 10 000-mal verkaufen.
Erstaunlicherweise geht die Hälfe seiner Platten nach Fernost, nur ein Drittel bleibt in Deutschland. Seine Künstler bilden,
ähnlich wie bei vielen Unabhängigen, eine überschaubare und gewachsene Familie. Er nimmt nur selten neue ins Boot, freut sich
aber, dass mittlerweile auch etablierte Künstler auf kleine Labels zukommen, weil sich die Konzerne nur noch um Superstars
kümmern.
Spreers neuester Debütant hat noch nie eine Platte aufgenommen. Er sitzt, auch wenn man ihn nicht sieht, in einer Kirche
in Frankfurts Norden am Steinway und spielt seine fünfte Sinfonie. Es ist Gustav Mahler. Mildes Tempo, kaum schwankend.
Singender Diskant und weiche Arpeggien lassen die Partitur plastisch werden. Dann legt der Maschinist einen Hebel um. Mahler
verstummt, die Papierrolle dreht sich im Leerlauf - gelocht nach jener Matrix, auf der der Komponist sein Spiel verewigte.
Das Welte-Mignon-Reproduktionsklavier gab seit 1904 besser als das Grammofon alle Parameter des Tastenspiels wieder, auch
Nuancen von Lautstärke und Tonlänge. Man riss sich um die Rollen und Abspielgeräte, die noch heute an jeden Flügel passen
und mit pneumatischen Fingern die Vergangenheit lebendig machen.
Spreer nimmt die Rollen des Sammlers Hans Schmitz jetzt auf, auch Debussy, Strauss, Granados wird man da als
Rollenspieler hören. Während die CD ihrer Dämmerung entgegeneiert wie einst das Reproduktionsklavier, wird sie mit der
vergessenenen Stanzmusik noch Interessenten finden. Das ist auch eine Frage des Zeitgeists. "Ich sehe zu, dass ich Platten
mache, die im Laden verkauft werden", sagt Spreer. Zwischen Majors und Discountern haben er und seine Kollegen [anderer
kleinen Labels] Gärten geschaffen, in denen Renaissancemusiker, kompomisslose Neutöner und ausgestorbene Maschinen zu
Herbstzeitlosen werden und blühen, während rings die Blätter fallen. (...)