Die Welt in einem Takt
Schönbergs Lieblingspianist hat sensationelle Aufnahmen hinterlassen

Gern wüsste ich, was mit Steuermann ist«, schreibt Alban Berg im September 1914, kurz nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs, an Arnold Schönberg. »Steuermann soll in Wien sein«, schreibt sein Lehrer und Freund zurück. Die Frage nach Eduard Steuermann ist geradezu ein Leitmotiv in der Korrespondenz der Wiener Schule. 1892 in der heutigen Ukraine geboren, wurde er in Wien der wichtigste Pianist des Schönberg-Kreises und emigrierte, als Jude verfolgt, 1938 in die USA, wo er 1964 starb. Also, was ist mit Steuermann? Er war einer jener genialen Vermittler, ohne die das Neue gar nicht durchzusetzen ist. Einer, der nicht nur verstand, was Schönberg & Co. Dachten und schrieben, sondern es so sicher, klar, dringlich spielte, als sei der Rang des Neuen längst unzweifelhaft.

Der Makel vieler Pioniere, die es besser meinen als machen, haftete ihm nicht an. Andererseits war er frei vom Gestus des Starpianisten, der auch mal ein paar Avantgardisten auf die Beine hilft, schließlich komponierte er auch selbst.

Dass man ihn jetzt wieder hören kann, in einer Mono-Aufnahme von 1957, ist allein schon viel wert - und was man da hört, öffnet einem die Ohren. Steuermann spielt einen Schönberg von innen, viel freier, träumender, singender, als es ins Bild vom dogmatischen Zuchtmeister Arnold passt. Vom atonalen Aufbruch vor romantischem Hintergrund bis zum so gedrängten wie lichten Konstrukt von 1931 führt uns der Pianist, der bis auf ein Jugendwerk alles aufgenommen hat, was sein Lehrer für Klavier solo komponierte. Ein Kosmos von geringen Außenmaßen - nicht mal 50 Minuten braucht der Pianist. Doch er weiß, wie viel Zeit, Welt, Leben in einem Takt stecken kann, und durchs Nadelöhr der Noten führt er uns in die Weite zurück, wo einen der Dreiklang E-H-Ais wie eine Sehnsuchtsbö ins Ferne reißt (opus 25). Feiner abstufen kann man den Anfang der drei Stücke opus 11 nicht, auch nicht beredter, anrührender. Und wenn Schönberg wie im opus 23 eine Linie in Vergrößerung wiederholen lässt, entsteht bei Steuermann beiläufig ein Dialog.

Wo immer Eduard Steuermann eine Gestalt entdeckt, macht er sie lebendig. Unglaublich, wie verschieden er Stimmen färben, wie plastisch er sie formen kann, wie viel Raum sie erschließen. Für das Schlussstück von opus 19, Schönbergs letztem Gruß an Gustav Mahler, braucht Steuermann nur 59 Sekunden - und ist darin tiefer als etwa Mitsuko Ushida, die den Satz in pathetischen zweieinhalb Minuten und viel Pedal ertränkt.

Dass man Steuermann jetzt wieder hören kann, verdankt sich einem Projekt, mit dem das Label Tacet ihn in Neuaufnahmen auch als Komponisten vorstellt. Auch der ist aber da am stärksten, wo er interpretiert - als Arrangeur. Im Wohin? Aus Schuberts Müllerin sitzen an drei Klavieren Erika Haase, Carmen Piazzini und Ulrike Moortgat-Pick, der deutsche Wald der Mühlenräder in G-Dur verschwindet, stattdessen glitzert in Ges-Dur durch mannshohe Wurzeln ein transatlantisches Mündungsdelta. Mehr Horizont hat wohl selten einer hinter den Noten entdeckt.

Volker Hagedorn

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