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Buchstäblich jahrhundertelang dominierten Frankreich, Italien, Spanien und England das Bild, wenn es um die Musik des 14. und 15. Jahrhunderts ging. Im deutschsprachigen Raum mögen sie vielleicht nicht gerade auf den Bäumen gesessen haben; schließlich überliefern das Buxheimer Orgelbuch und drei bedeutende Liedsammlungen ein durchaus vorzeigbares Repertoire. Aber an die Strahlkraft eines Dufay, Ciconia oder Dunstaple reichten diese Meister eben nicht heran.

Frühe Musik von höchster Qualität

Da kommt auf einmal das in Basel ansässige Ensemble Peregrina daher und erschließt dem Hörer mittlerweile in einer vierten Folge Musik aus Rostock, Stralsund und Lübeck, aus Gdansk, Szczecin und Schwerin, die bislang nur musikwissenschaftliche Spezialisten auf dem Schirm hatten. Musik von hoher, teils höchster Qualität wohlgemerkt. Ihre Komponisten heißen Wizlav von Rügen, Meister Rumelant von Sachsen oder Hermann Damen, ein großer Teil der Quellen ist, wie es für ganz Europa in der Zeit zwischen spätem Mittelalter und früher Renaissance typisch ist, anonym überliefert.

Schon allein der Repertoirewert dieses vierten Albums „Pomeriana“ der „Mare Balticum“-Reihe mit instrumentalen, vor allem aber vokalen Stücken, wäre also an sich astronomisch, selbst, wenn sich das Ensemble Peregrina unter der Leitung von Agnieszka Budzinska-Bennett diesen unbekannten Motetten, Gesängen und Liedern erst einmal vorsichtig tastend nähern würde. Doch die vier Musikerinnen und der Experte für Fiedeln und sonstige Saiteninstrumente Baptiste Romain entfalten diese kleinen Kunstwerke mit einer solchen ruhigen Selbstverständlichkeit und sich instantan mitteilenden Vertrautheit, als ob sie vor sechs, sieben Jahrhunderten persönlich dabei gewesen wären – wobei sie wohlgemerkt aus Faksimiles der Originale singen und spielen!

Aura der Versunkenheit

Der Vortrag der schönen Stimmen kommt ohne alle Manierismen aus, wie sie bei sehr alter Musik gerne eingesetzt werden, um deren Fremdartigkeit zu betonen; die Rhythmen fließen natürlich, geben jedoch auch lebendige Impulse; schließlich und endlich stellt sich durch die höchste Konzentration des Musizierens – nicht also durch sozusagen authentische Verzückung – auch jene geistliche Aura der Versunkenheit ein, ohne die etwa die berückende Bordesholmer Marienklage, aber auch die wunderbaren Ave maris stella-Sätze kaum verstanden werden können.

Die wie immer überragende Klangtechnik von Tacet leistet ihren Teil zum Hörvergnügen. Dabei verfügt der Rezensent noch nicht einmal über ein SACD Surround System. Aber sowohl über herkömmliche Lautsprecher wie auch über Kopfhörer teilt sich die angenehm hallige Akustik, nicht zuletzt auch die sensible klangliche Ausleuchtung des Raumes mit. Ein wertvolles Geschenk für Hörerinnen und Hörer, die sonst schon alles haben.

Dr. Michael B. Weiß

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